Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
je nachdem, wie man es liest, kann Ihr Abimotto : „EKG – 12 Jahre Höhen und Tiefen“ zu unterschiedlichen Deutungsversuchen anregen. Da ich natürlich aufgrund meiner Biografie und Funktion mit „EKG“ in erster Linie unsere Schule in Verbindung bringe, obwohl ich natürlich weiß, dass die medizinische Bedeutung der drei Buchstaben, die weitaus bedeutendere ist, habe ich mich zunächst gefragt, wie kann es sein, dass man 12 Schuljahre auf unserem Gymnasium verbringt und dann heute noch stolz sein Abitur feiert? Auf elf Jahre Verweildauer, wie das schöne Wort heißt, könnte ich schon kommen, wenn ich alle legitimen Wiederholungsmöglichkeiten miteinbezöge. Aber irgendwie bin ich nicht auf das 12. Schuljahr gekommen. In meiner Hilflosigkeit ging ich zu Herrn Dr. Drescher. Er war der Meinung, das Motto ergäbe zahlenmäßig nur einen Sinn, wenn man die Grundschulzeit zu der Kalkuhlzeit addiere. Ich nehme nun also an, dass das in dem Sinne von Ihnen auch so gemeint ist. Dieser Abiturientenjahrgang hätte dann insgesamt mustergültig und zielorientiert seine Schulzeit durchlaufen. Ein Sitzenbleiben kann es für die meisten nicht gegeben haben, wenn man nach 12 Jahren insgesamt heute sein Abiturzeugnis empfängt. Höhen und Tiefen im Schulleben, den Kurven des EKG vergleichbar, wird jeder individuell erlebt haben. Und nicht allen Abiturientinnen und Abiturienten war es vergönnt, ihre ganze gymnasiale Schulzeit hier zu verbringen, dies betrifft die Internatsschüler in erster Linie. Die Mehrzahl von ihnen hatte sich eher für eine zwei bis dreijährige Kurzzeittherapie, „EKG-light“ mit speziellem Fördereffekt“ entschieden, wuchs aber in selbstverständlicher Form mit diesem Jahrgang zusammen.
Schon zu Zeiten meiner 1. Schulzeit in den 60er Jahren auf Kalkuhl, ich habe mittlerweile bereits 2 unterschiedliche Schulzeiten hier absolviert, wurde das Ernst-Kalkuhl-Gymnasium von uns Schülern mit dem medizinischen EKG in Verbindung gebracht.
Das uns allen bekannte elektronische EKG misst rational Erfassbares . Es zeichnet positive und negative Herzsequenzen mit großer Exaktheit auf. Es bleibt aber rein rational, eben gefühllos. Ist dieses EKG dann so einfach mit unserem EKG vergleichbar? Als Ernst Kalkuhl 1880 seine Schule gründete, ging es ihm nicht nur um Rationalität und Fachbezogenheit allein , sondern gerade eben um eine Erziehung zu menschlichen und sozialen Grundwerten, die auch die Kräfte der Phantasie und des Gefühls miteinschlossen. Im Mittelpunkt aber stand für ihn die persönliche Zuwendung des Pädagogen dem einzelnen Schüler gegenüber. Dass sich daraus die Idee entwickelte zusätzlich zur Schule ein Internat zu führen, erscheint fast als logische Konsequenz. Den alten „Oehm“,wie sie meinen Urgroßvater nannten, mochten seine Schüler. Sein EKG hatte eine emotionale Dimension, die über die reine Kompetenzvermittlung hinausging. Tradition heißt für uns bis heute auch, diesem pädagogischen Denken verhaftet zu bleiben.
In dem Zusammenhang ist das Leben in der Gemeinschaft, das Sie in den vergangenen Jahren wissentlich und unwissentlich geprägt hat, von besonderer Bedeutung. Die Internatsschüler unter Ihnen, die nicht nur Ihr schulisches, sondern auch ihr alltägliches Leben ganz eng mit uns verbunden haben, machten in den letzten Jahren diesbezüglich sicherlich ihre ganz eigenen Erfahrungen , Erfahrungen, die Sie, wie ich das aus vielen Gesprächen über die Jahre hinweg mit ehemaligen Internen beurteilen kann, ein Leben lang begleiten werden. Eine Rückbesinnung auf die hier verbrachte Internatszeit wird Ihre besondere Affinität zur dieser Schule immer wieder herstellen . Für Sie alle, meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten, stellt der heutige Abschied auch einen Abschied von Ihrem Lebensraum Kalkuhl dar, der mehr ist als der Ort Ihrer Ausbildung.
Noch vor kurzem liefen mir Schülerinnen und Schüler des letzten und auch des vorletzten Abiturjahrgangs hier über den Weg und es fiel zunächst nicht auf, dass sie eigentlich gar nicht mehr im engeren Sinn zu unserer Schülerschaft gehörten, so glänzend hatten sie sich an ihr altes Lebensumfeld wieder angepasst. Auf meine erstaunte Frage : „Was macht Ihr denn hier?“ strömte mir ein seliges Grinsen entgegen und die eine oder der andere sagte : „Es war so schön hier. Wir wollen uns nochmal umgucken.“ In ihren Ohren, sehr geehrte Eltern, und das gerade noch aus meinem Mund, müssen solche Aussagen an einem Ort wie heute plaziert wie eine geschickte Form der Eigenwerbung aussehen. Das mag sein! Aber das ist es ja gerade, was unser Zusammensein zwischen Schülern und Pädagogen ausmacht, dass wir uns freuen hier gemeinsam miteinander arbeiten und leben zu können, und das in ganz unterschiedlichen Facetten. Es hat sich nun wieder für den Juli ein Ehemaligenjahrgang bei mir angekündigt, der sein 30. Abitur feiert und der danach gefragt hat, ob er nicht auch noch einmal zu für ihn entscheidenden Orten wie Klassenräumen und Internatszimmern geführt werden könne.
Auch Sie, meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten, werden es erleben, das von heute an die Schulzeit in einem von Jahr zu Jahr zunehmend milderen Licht gesehen werden kann. Und wenn Ehemalige dann zum Erinnerungsfoto zusammenkamen und die Frage auftrat , wo das denn aufgenommen werden sollte, so hatte ich nicht nur einmal dem konkreten Wunsch zu entsprechen: „Wenn es geht, machen wir eine Aufnahme in den Baracken!“ Sie werden denken, der nächste geschickte Schachzug am heutigen Tag in der kalkuhlschen Betriebspolitik. Diesmal geht es darum, den Baracken einen Ewigkeitswert zu verleihen, um so einen Neubau überflüssig zu machen! Aber ein bisschen vom Türmchen, dem Rosengarten, dem Bahnwärterhäuschen oder der Turmuhr und nicht zu vergessen als zentralem Ort der Kommunikation,von dem Raucherhof, davon lebt unsere Schule im Alltag – vielleicht nun bald auch für Sie, meine lieben ehemaligen Schülerinnen und Schüler, in Ihrer Rückerinnerung !
Nach 12 Jahren Schule , davon einen guten Teil im EKG verbracht, ändert sich nun Ihre Lebensperspektive schlagartig. Es wird heute zur Realität, was davor nur als Möglichkeit angedacht war. Sie müssen sich für einen konkreten Lebensweg jetzt bald entscheiden. Ich erinnere mich noch gut an ein gewisses mentales und gefühlsmäßiges „Loch“ kurz nach dem eigenen bestandenen Abitur 1968.
Der schulische Rahmen und vor allem natürlich die bevorstehenden Prüfungen sorgten vor dem Abitur automatisch für eine entsprechende Zielorientierung. Die vertraute Einbettung in Elternhaus, Freundeskreis und Schule gaben Orientierung und bei aller jugendlicher Kritik an Bestehendem existierte doch auch ein Gefühl des Aufgehobenseins. Diese Parameter verändern sich nun schlagartig und Sie brauchen Verstand, Mut und Selbstvertrauen, um Ihre Dinge noch selbständiger in die Hand zu nehmen. Schauen Sie auf Ihr persönliches EKG mit der Zuversicht, dass dem gegebenenfalls kurzerhand auftretenden negativen Ausschlag bald eine positive Lebenskurve folgen wird. Wenn die auf unserer Schule verbrachten Jahre, ob als externer oder als interner Schüler, dazu beigetragen haben, dass Sie ein solides oder vielleicht sogar profundes wissenschaftliches Instrumentarium zur Bewältigung ihrer zukünftigen beruflichen Herausforderungen bekamen, mit dem Gefühl, sich auch als Persönlichkeit weiterentwickelt zu haben, dann werden Sie sicher immer gern an Ihre Kalkuhlzeit zurückdenken. Und wer weiß, ob Sie dann nicht auch irgendwann mit Ihren Freunden vor den Türen unserer Barackenklassen stehen werden, mit dem Wunsch: Könnten wir hier auch einmal eine Aufnahme von uns machen ?
In dieser Form wird Ihr EKG, ihre Herzspannungskurve, mit unserm EKG, Ihrer nun ehemaligen Schule, hoffentlich noch viele Jahre in Verbindung bleiben.
Ich wünsche jeder einzelnen Abiturientin und jedem einzelnen Abiturienten nun eine erfolgreiche vor allem aber eine glückliche Zukunft.

Ernst-Martin Heel