Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

um es direkt vorweg zu nehmen: Sie sind ein ganz besonderer Jahrgang in unserer diesjährig 140jährigen Schulgeschichte, denn noch nie hatten Schülerinnen und Schüler unter solchen Bedingungen ihr Abitur ablegen und auf all die damit verbundenen Feierlichkeiten verzichten müssen. Die „golden Twenties“, im vergangenen Jahrhundert, die Sie in Ihrem Abimotto anklingen lassen, begannen allerdings auch mit einer tiefen Depression und Sie wissen, was sich daraus später gesellschaftlich noch entwickelt hatte an Prosperität, kultureller Blüte, bahnbrechendem Erfindungsgeist in vielerlei Richtung und Weltoffenheit. Also sehen wir diesen heutigen Tag auch, der nun den endgültigen Abschluss Ihrer Schulzeit signalisiert, als den 1. Tag in ihren ganz persönlich nun folgenden „golden twenties“, die eine große Chance zur Weiterentwicklung für Sie sein mögen.

Bis vor wenigen Jahren erhielt der kalkuhlsche Abiturient sein „Reifezeugnis“, ich weiß nicht, ob der Begriff noch zeitgemäß ist, in dem historischen Speisesaal unserer Schule. Zu meiner Abiturientenzeit war der Stuhl, auf dem man den von Pathos getragenen Reden lauschen durfte, sogar noch von Lorbeer umrankt. Dann gab es natürlich in der Folge noch die Jahre, in denen man vielleicht sogar in Sandalen mit einem Baumwollshirt bekleidet sein Abiturzeugnis dort so etwa im Vorbeigehen entgegennahm. Eine Tendenz trat aber in dem letzten Jahrzehnt mehr als deutlich hervor, das Auditorium bei den Entlassungsfeiern bestehend aus den Familienmitgliedern unserer Abiturientinnen und Abiturienten wuchs numerisch von mal zu mal. Längst waren die Bestuhlungskapazitäten des Speisesaals erschöpft und über den Umweg „Kamehahotel“ näherten wir uns in den letzten Jahren unserer Turnhalle, die sich durch ein gewisses Facelifting sehr wohl als feierlicher und würdiger Ort für diese wichtige Feier erwies. Dann aber kam Corona. Und nun. Der erste Abiturientenjahrgang Jahrgang der nun folgenden , ich hoffe, „golden twenties“ auch für Kalkuhl hat ganz neu gedacht, alle bisherigen Konventionen auf den Kopf gestellt und nach Lösungen des „Nochmöglichen“ gesucht. Das Ergebnis heute: Eine Abiturientenentlassungsfeier als „Open Air Festival“. Emotionalität und Feierlichkeit, eben all das, was sich bei den Abiturjahrgängen vor Ihnen über manche events hinweg entwickeln konnte, soll heute höchst komprimiert in dieser einzigen und besonderen Feier zusammenfließen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie diesen Tag trotz oder gerade wegen der Kompensation äußerer widriger Umstände niemals vergessen werden. Ich bin sicher, in die Geschichte dieser Schule hat er schon seinen Einzug gehalten.


Es freut mich auch deshalb Ihnen hier zum bestandenen Abitur gratulieren zu dürfen, weil Schülerinnen und Schüler Ihres Jahrgangs die letzten sind, die ich in meiner aktiven Zeit als Lehrer an unserer Schule unterrichten konnte. Das war genau vor acht Jahren im Jahr 2012 als ich eine 5 in Deutsch übernahm. Während die Damen zu jener Zeit schon durchaus subtile Formen sozialer Interaktion entwickelt hatten, fielen die Jungen noch eher durch ein robustes und polteriges Verhalten auf, das zuweilen eng mit der Beherrschung mitgebrachter Spielsachen verbunden war. Die eher gering ausgebildete Kompetenz Wörter adäquat schreiben zu können, war weniger Ihnen, den Fünftklässlern von damals zuzurechnen, es war vielmehr die Folge einer pädagogisch ambitionierten, aber leider an der Schul- und Lebenswirklichkeit vorbeigehenden Grundschuldidaktik. Immer wieder einmal in den darauffolgenden Jahren hatte ich die Gelegenheit mit einzelnen von Ihnen in einen smalltalk an irgendeiner Ecke hier in Kalkuhl verwickelt zu werden. Notenbilder, die sich später bei Zeugniskonferenzen mit Ihrem Namen versehen auf den Projektionsflächen manifestierten, erfreuten mich sehr oft oder ließen zuweilen auch ein gewisses Schmunzeln entstehen. Ja, ich interessierte mich weiter für das, was Sie so machten, denn irgendwie blieben Sie meine lieben Fünftklässler von damals. Natürlich möchte ich all die Schülerinnen und Schüler, die ich eben nicht mehr unterrichten durfte, in meine guten Wünsche miteinschließen.
Mit dem heutigen Tag beenden Sie einen Teil Ihrer Jugend, Ihre Schulzeit. Natürlich fragt man sich als Pädagoge oder Lehrer doch auch immer wieder nach dem Sinn und Zweck von all dem, womit Sie sich in den Jahren beschäftigten .Vor allem natürlich bei Anlässen wie dem heutigen. Als Betrachter der Verhältnisse um uns herum in einer wie mir scheint durch und durch veränderten Welt fällt es mir plötzlich leichter, zu konkretisieren, welchen Sinn und Zweck wir als Gymnasium hier erfüllen sollen. Wenn Ignoranz mancherorts hoffähig gemacht und Diletantismus zuweilen beklatscht wird, wenn eigennütziges Denken und Handeln immer wieder arrogant auf verantwortliches Tun herabzublicken wagt, der Schein wichtiger als die anstrengendere Suche nach dem Richtigen ist, in einer solchen Welt sind Menschen, die gegebenenfalls eine Gegenposition einnehmen können wichtig, die in der Lage sind, sich ihre Orientierung eigenständig zu erarbeiten und danach zu leben. Wenn Sie dazu durch den Unterricht und Ihre Zeit auf Kalkuhl in irgendeiner Weise vorbereitet wurden, dann hat diese Schule mit ihrem humanen Bildungsauftrag einen wichtigen Zweck erfüllt.
Meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten, ich wünsche Ihnen, Ihrer Familie und Freunden, dass Sie diesen Tag jenseits von allen Zoomkonferenzen und trotz des Abstands von 1,50m zueinander genießen können, in dem Bewusstsein etwas ganz Entscheidendes nun endgültig geschafft zu haben. Das bedeutet, dass Sie heute einen „glanzvollen Abgang“ von Ihrer alten Schule vornehmen, um sich ganz Ihren eigenen „golden and roaring twenties“ in den nächsten Jahren zu widmen.

Ernst-Martin Heel