Der Klassenraum: ein Boxring. Darin sieben Jugendliche, überwiegend im Proleten-Outfit und mit Null Bock auf Schule. Also Gewalt, Beschimpfungen, Obszönitäten. Eine adrett gekleidete junge Lehrerin steigt in den Ring. Ein hilfloses armes Ding. Man weiß sofort: Sie wird gegen diese Chaoten keine Chance haben. Der Lernstoff: Schillers Drama „Die Räuber“. Interessiert niemanden. Wenn überhaupt, werden Verse widerwillig und lustlos heruntergeleiert. Dann wieder jeder gegen jeden. Autorität hat in dieser Rabaukengruppe nur der körperlich Stärkere. Und das ist garantiert nicht die Lehrerin.

Die Machtverhältnisse kehren sich aber schlagartig um, als aus dem Rucksack eines Schülers eine Pistole fällt. Die Lehrerin ergreift sie, richtet sie auf die Schüler, und all der angestaute Lehrer-Frust vergangener Jahre bricht aus ihr heraus. Jetzt müssen die Schüler endlich einmal gehorchen. Jetzt kann sie sich für alle erlittenen Demütigungen rächen. Klassiker-Lektüre unter Gewaltandrohung mit der Waffe.

Die vorher amorphe Gruppe zerfällt nun in Individuen. Jeder hat Angst und jeder geht auf seine Weise damit um. Es fallen Schüsse; der Lehrerin wird die Pistole entrissen und jeder, der sie in die Hände bekommt, hat nun seinen großes Coming out, kann offen herausbrüllen, was ihn bewegt und was er von den anderen hält. Der Schlägertyp ebenso wie das Bürgersöhnchen, der Mitläufer ebenso wie das Migranten-Mädchen mit Kopftuch, die „Schlampe“ ebenso wie das ewige Opfer.

Doch immer dann, wenn das Chaos am größten ist und der Zuschauer längst vergessen hat, dass er einer Theateraufführung beiwohnt, treten die Schauspieler aus ihren Rollen heraus, stellen sich in Reih‘ und Glied auf und singen mit braver Miene herzige Liedlein. Biedermeier pur. So will man sie nun auch wieder nicht!

Am Schluss des Stückes zeigt sich, dass diese „Unterrichtsstunde“ vielleicht doch noch eine kathartische Wirkung hatte: Alle finden zu einer versöhnlichen, humanen Geste gegenüber dem Mitschüler, der sich vorher ganz besondes gemein gezeigt hatte. Doch darf man diesen Bekenntnissen zu Schillers hehren Idealen wirklich trauen?

Die Schüler des Literaturkurses kennt man aus anderen Kontexten. Normale Schüler eben. Aus ihnen hat unser Kollege Jochen Schulze Diesel binnen eines Jahres richtig gute Schauspieler gemacht – authentisch, glaubwürdig auch im Pathos. Für alle war das ein Stück harter Arbeit, denn die literarische Vorlage der Berliner Theatermacher Jens Hillje und Nurkan Erpulat musste auf hiesige Verhältnisse umgeschrieben werden. Alle haben daran mitgewirkt, sehr viel von sich selbst eingebracht und vielleicht gerade deshalb ein so verstörendes Schauspiel geschaffen, das uns zeigt, wie es hier bei uns sein könnte und wie es woanders längst schon ist. Das war kein Kulturabend. Oder gerade doch?